Hirmer Verlag: Verdammte Lust

KULTURELLES

Kunst, Körperlichkeit und Kirche

Für mich gibt es kaum etwas so tiefgründiges und gleichzeitig provokantes wie die Kombination der Themen Religion, Körperlichkeit und Kunst. Der Hirmer Verlag greift mit dem Buch "Verdammte Lust! Kirche. Körper. Kunst." genau diese Themen auf und beschreibt auf über vierhundert Seiten eindrucksvoll, wie die Kirche über Jahrhunderte hinweg den menschlichen Körper und die körperliche Lust in der Kunst dargestellt und interpretiert hat.
Der Band wirft Fragen über den Zwiespalt zwischen spiritueller Reinheit und körperlicher Lust auf und beleuchtet, wie sich dieser Konflikt in der Kunstgeschichte manifestiert hat.

Die Herausgeber – eine Reihe angesehener Kunsthistoriker und Theologen – haben mit diesem Buch ein Werk geschaffen, das die Geschichte der kirchlichen Kunst aus einer neuen Perspektive beleuchtet.

Es ist kompliziert …

In der Kunstgeschichte zieht sich der beschriebene Konflikt wie ein roter Faden durch viele Werke. Und die Kirche? In der Vergangenheit verteufelte sie einerseits die Darstellung von Nacktheit als Sünde, förderte aber gleichzeitig die Verherrlichung des menschlichen Körpers in der Kunst, um religiöse Themen darzustellen. Diese Ambivalenz, das Changieren zwischen Heiligkeit und Sinnlichkeit, verleiht vielen Kunstwerken eine faszinierende, mehrdeutige Tiefe.

Ganz aktuell schätzt Kardinal Reinhard Marx, der Erzbischof von München und Freising, "Verdammte Lust. Kirche. Körper. Kunst" als äußerst relevant und zeitgemäß ein. Er erkennt an, dass die christliche Anthropologie eine tiefgreifende Beziehung zur Körperlichkeit und Sexualität hat und dass diese oft durch moralische Spannungen geprägt wurde.

Marx betont, wie „zeitlos, hochaktuell und umstritten zugleich“ das Thema ist. Er sieht Verbindungen zu gesellschaftlich relevanten Themen wie den Fällen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche und hofft, dass die Ausstellung dazu beiträgt, die Debatte über Körperlichkeit und Sexualität in der Kirche konstruktiv voranzubringen.

Dem kann ich mich nur anschließen. Beide Themen, sowohl die christliche Anthropologie als auch Körperlichkeit und Sexualität, haben mich nicht nur in meinem Leben, sondern auch während meines Studiums und meiner Forschung stark geprägt. Entsprechend gespannt – und zugegebenermaßen erwartungsvoll – war ich, als ich das Buch in den Händen hielt.

Ein Ausflug in die Kunstgeschichte

Das Buch spannt in acht Kapiteln einen Bogen von vorchristlichen Darstellungen der Nacktheit bis hin zu den üppigen, leidenschaftlichen Interpretationen der Renaissance und des Barock und geht darüber hinaus bis zu Sigmund Freud.

Es beginnt, wie sollte es anders sein, bei Adam und Eva, die zunächst nackt und unbeschwert im Paradies leben. Diese unbeschwerte Nacktheit wird erst in der Renaissance, als sich durch den Humanismus neue Denkanstöße ergaben, zu etwas Positivem.

Hier wird die unbeschwerte Körperlichkeit zum Ausdruck der Sehnsucht nach dem Paradies – und die Darstellung der Nacktheit wird legitimiert. Bis dahin jedoch herrschte eine deutlich negativere Einstellung zur Darstellung nackter Körper, da diese geprägt war von dem, was auf die paradiesische Unbeschwertheit folgte: dem Sündenfall von Adam und Eva. Hier liegen die Wurzeln der Vorstellung von Schuld und Scham im christlichen Menschenbild, und insbesondere die Frau galt als Verführerin und Verführbare. Bei frühchristlichen Denkern wie Augustinus wurde Sexualität zur Erbsünde, was den Grundstein für die kirchliche Sicht und die negative Bewertung von Körperlichkeit und Sexualität legte.

Die Folge des Sündenfalls war eine tief verankerte Keuschheit als Symbol der Reinheit. Jesus und Maria galten als Vorbilder sexueller Enthaltsamkeit. In der Kunst jedoch wurde diese Keuschheit oft sinnlich dargestellt. Figuren wie Maria Magdalena oder der leidende Sebastian boten Künstlern die Möglichkeit, Tabuthemen wie Prostitution oder Homosexualität zu visualisieren. Diese Ambivalenz zwischen spirituellem Ideal und körperlicher Sinnlichkeit ist ein zentrales Thema, das in der Kunst immer wieder ausgelotet wurde.

Und vor der kirchlichen Prägung?

Die Autorinnen und Autoren blicken auch zurück auf die Antike und verdeutlichen den Kontrast zur christlichen Sicht auf den Körper. In der Antike galt Körperlichkeit noch nicht als belastet oder sündhaft; man feierte den sinnlichen Körper. Statt der jungfräulichen Geburt und einem keuschen Gottessohn begegnen uns in der antiken Kunst eine ausgesprochen offene und positive Auffassung von Körperlichkeit.

Im antiken Griechenland war die Darstellung des menschlichen Körpers eng mit Idealen von Tugend und Perfektion verbunden. Nacktheit symbolisierte hier nicht bloß Sexualität, sondern vor allem Tugend, Kraft und Schönheit. Helden wie Herakles oder Athleten wurden nackt dargestellt, um ihre physische und moralische Überlegenheit zu betonen.

In der römischen Kunst – man denke an die Fresken von Pompeji – wurden nicht nur Götter, sondern auch Menschen (übrigens nicht nur heterosexuelle, sondern ganz selbstverständlich auch homosexuelle) in alltäglichen Szenen und expliziten erotischen Darstellungen gezeigt. Die Wissenschaft schließt daraus auf eine reflektierte Gesellschaft in Bezug auf Normen und Einstellungen zu Sexualität.

Zwischen Regeln und Machtmissbrauch

Aber zurück zu den christlich geprägten Zeiten. In der Realität führte der Gegensatz zwischen körperlicher Begierde und geistiger Reinheit zur strengen Regulierung von Sexualität durch Konzepte wie Zölibat und Jungfräulichkeit. Sexualität war nur innerhalb der Ehe und ausschließlich zur Fortpflanzung erlaubt. Die Schmerzen und Gefahren der Geburt – hier kommt wieder die Erbsünde ins Spiel – wurden als Konsequenz dieser Sünde interpretiert. So weit die kirchliche Perspektive auf Körperlichkeit und Sexualität.

Aber dabei bleibt es nicht. Ausstellung und Begleitband verschweigen auch nicht die dunklen Seiten der Sexualität: Macht und Missbrauch. Der Gegensatz von Macht und Ohnmacht wird ebenso beleuchtet wie das körperliche Ungleichgewicht in Beziehungen, insbesondere die Dominanz des Mannes und die daraus so oft resultierende Unterdrückung der körperlich unterlegenen Frau. Immer wieder brechen die Autorinnen und Autoren dieses Narrativ jedoch durch die Darstellung starker, sich widersetzender Frauenfiguren auf.

Fazit: Eine tiefgehende Reflexion über Körperlichkeit und Religion

Dieses Buch ist mehr als ein bloßer Abriss der Genese des christlichen Bildes von Körperlichkeit und Sexualität – und auch mehr als eine wunderbar bebilderte Erkundung der Kunstgeschichte. Es ist eine tiefgehende, aber dennoch leicht verständliche Reflexion über die menschliche Existenz, die sich in einem ständigen Spannungsfeld zwischen körperlicher Lust und religiösen Idealen, zwischen Sünde und Erlösung bewegt, und die die christliche Kunst durchdringt.

Was dieses Werk so außergewöhnlich macht, ist die Art und Weise, wie es die religiösen und moralischen Narrative hinter den Kunstwerken entschlüsselt und uns zeigt, wie Künstler über Jahrhunderte hinweg den menschlichen Körper zwischen Moral und Verlangen darstellten. Es verdeutlicht, dass die Kirche nicht nur der moralische Hüter war, der strenge Regeln sorgsam und unerschütterlich befolgte, sondern auch unbewusst die körperliche Lust selbst zelebrierte. Immerhin waren es kirchliche Würdenträger, die den Künstlern auftrugen, den menschlichen Körper in seiner Nacktheit – ob in biblischen Szenen oder in Heiligenfiguren – detailgetreu zu verewigen. Besonders der weibliche Körper ist ein wiederkehrendes Thema, das immer wieder den Zwiespalt zwischen körperlicher Lust und spiritueller Hingabe, zwischen Reinheit und Verführung widerspiegelt.

Für mich als Kulturwissenschaftlerin ist es zudem faszinierend zu sehen, wie sich die Wahrnehmung des Körpers im Laufe der Geschichte wandelte: Von der Antike über die frühe christliche Kunst bis hin zur Renaissance und zum Barock, in denen die sinnliche Schönheit des Körpers betont wurde. Dies spiegelt sich in den üppigen und manchmal provokativen Darstellungen wider, die in diesem Buch ausführlich analysiert werden.

Die Qualität der Forschung und die beeindruckenden visuellen Elemente des Buches machen es zu einem Werk, das jeder lesen muss, die/der sich für die Verflechtung von Kunst, Religion und Körperlichkeit interessiert. Es zeigt auf, wie sich der Blick auf den menschlichen Körper über die Jahrhunderte hinweg verändert hat und wie dies dazu führt, unsere eigenen Perspektiven zu hinterfragen.

Wie kulturelle und religiöse Prägungen unsere Wahrnehmung von Körper und Sexualität beeinflussen – und welche Freiräume die Kunst bietet. Das Buch verdeutlicht, wie die immer gleichen Themen in der Kunstgeschichte stets neu verhandelt werden können.

Es ist ein Buch für alle, die sich auf eine Entdeckungsreise durch die Kunstgeschichte begeben möchten und gleichzeitig die grundlegenden menschlichen Fragen nach Lust, Schuld und Erlösung reflektieren wollen. Die zahlreichen Abbildungen, begleitet von Essays, ermöglichen es, die künstlerischen Werke in ihrem historischen, kulturellen und theologischen Kontext zu verstehen, auch ohne Vorwissen.

Für mich ist "Verdammte Lust! Kirche. Körper. Kunst." ein Werk, das nachklingt, zum Nachdenken anregt und Fragen aufwirft: Was sehen wir, wenn wir den menschlichen Körper betrachten? Und wie stark sind wir durch unsere eigene Prägung beeinflusst? Denn auch heute leben wir in einer Gesellschaft, in der Körperbilder und Moralvorstellungen immer wieder neu verhandelt werden.

Danke an den Hirmer Verlag für diesen wertvollen Beitrag zur Debatte über Kunst und Moral, die über Jahrhunderte hinweg geführt wurde – und heute relevanter denn je ist.

Quelle: Roll, Carmen; Kürzeder, Christoph; Mensch, Steffen; Aris, Marc-Aelico [Hg.]: Verdammte Lust! Kirche. Körper. Kunst. München 2023.

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